
Wir überschätzen allzu oft Emotionen in der Menge
„Crowd-Emotion-Amplification-Effect“ führt uns in die Irre
Vorsicht ist geboten bei der Einschätzung der Stimmungslage in einer Menge. Denn egal, ob wir auf eine größere Gruppe von DemonstrantInnen, KirchenbesucherInnen oder Familienmitgliedern schauen: wir fixieren als erstes Gesichter mit starker Mimik und verweilen mit unseren Blicken dort besonders lang, bevor wir endlich auch den Rest der Gruppe streifen. Dabei: es sind diese wütenden oder ängstlichen, jubelnden oder lachenden Gesichter Einzelner, von denen wir anschließend in einer unzulässigen Simplifizierung ableiten, ihre Emotionen würden auch die Gruppe als Ganzes dominieren. Wichtig zu wissen: Ein negativer Gesichtsausdruck „verführt“ uns hier noch stärker als ein positiver, vorschnell zu verallgemeinern. „Menge-Gefühl-Vereinfachungs-Effekt“ (Crowd-Emotion-Amplification-Effect“ nennen die AutorInnen einer rezenten Studie unter der Patronanz des Papstes der Emotionsregulation James J. Gross von der Stanford University dieses Phänomen.
Die Dauer des Betrachtens gibt den Ausschlag: sozial unsichere Menschen, die überdurchschnittlich viel Zeit mit dem Beobachten starker Mimik zubringen, neigen daher besonders dazu, Gruppen pauschal falsch einzuschätzen und vorzuverurteilen. Die ForscherInnen empfehlen hier als Abhilfe Trainings, mit denen man lernt, gezielt auch Gruppenmitglieder ohne expressiven Gesichtsausdruck zu beobachten.
„The Crowd-Emotion-Amplification-Effect“, Goldenberg/Weisz/Sweeny/Cikara/Gross, in: Psychological Science”, vol. 32, issue 3, 2021.
Aus der Praxis:
Ich fühle mich ertappt. Und das obwohl ich mich nicht unbedingt als sozial unsicher sehe. Auch meine Augen bleiben – live, analog oder virtuell, beim Foto oder beim Video – als erstes dort hängen, wo Ausdrucksstarkes zu passieren scheint. Erst danach schweift mein Blick über die anderen in der jeweiligen Gruppe oder Menge. Jedenfalls hat mir diese Studie wieder einmal bewußt gemacht: 1. Wie wichtig Blickkontakt ist, 2. Wie trügerisch aber alles Optische auch sein kann, wenn wir uns nicht genug Zeit nehmen, bevor wir uns eine Meinung bilden oder gar ein erstes Urteil fällen.
Ich nehme mir also vor, mit meinen KlientInnen noch intensiver zu diskutieren, wie wir uns diesbezüglich vor unserer eigenen Oberflächlichkeit schützen können. Es braucht ein intrinsisches Ja zu Fakten und zur genauen Recherche und ein klares Nein zu Vereinfachungen, noch dazu, wenn sie tendenziell zu Abwertung und Geringschätzigkeit führen.
Achtsamkeit ist gefragt, Coaching und/oder Selbstreflexion.